Karate und Faszien
Faszinierender Zugang zum Kime
Vor nicht allzu langer Zeit wurde die immense Bedeutung des alles umfassenden und alles verbindenden Fas- ziennetzes des Körpers für Fitness und Gesundheit jedes Athleten– professionell oder nicht – erforscht und bewiesen. Ein gut ausgebildetes und gut integriertes Fasziennetz optimiert sowohl Höchstleistungen, als auch Koordination von Detailbewegungen. Es sind nicht die Gelenk-Rezeptoren, die Informationen darüber geben, wie sich der Körper bzgl. der inneren Wahrnehmung verhält, sondern die vielen Rezeptoren der Fas- zien. Nicht die Haut ist daher unser größtes Sinnesorgan, sondern die Faszie. Mit dem Einbeziehen der Fas- zien ins Training können die eigenen Leistungsgrenzen nach oben verschoben werden. Faszienspannung und katapultartige Entladung lassen extrem schnelle und mühelose Bewegungen zu. Das Fasziensystem wird zum Punkt der höchsten Anspannung auf- und entladen, dem Kime.
Faszien, das faszinierende Organ des Körpers
Faszie (lat. fascia für „Band“, „Bandage“) bezeichnet die Weichteil-Kompo- nenten des Bindegewebes, die den ganzen Körper als ein umhüllendes und verbindendes Spannungsnetzwerk durchdringen. Hierzu gehören alle kolla- genen faserigen Bindegewebe, insbesondere Gelenk- und Organkapseln, Sehnenplatten, Muskelsepten, Bänder, Sehnen, sowie die „eigentlichen“ Faszien in der Gestalt von „Muskelhäuten“, die die Muskeln strumpfartig umhüllen. Zahlreiche manualtherapeutische Verfahren zielen darauf ab, eine nachhaltige Veränderung in den Faszien auszulösen. Hierzu gehören unter anderem die Bindegewebsmassage, Osteopathie, Rolfing oder My- ofaszial Release.
Abbildung oben: Septen mit freundlicher Genehmigung Dr. Robert Schleip
Abbildung links: Rückenfaszie (Faszia thoracolumbalis) mit freundlicher Genehmigung Dr. Robert Schleip
Historisches: Karate und Faszien: Beginn im Verborgenen Karate entstand vor ca. 130 Jahren in Okinawa mit chinesischem Einfluss im Verborgenen aus dem „Tode“ (Itosu, Asato). Es wurde in Japan ab den 1920er Jahren verfeinert (Funakoshi). Etwa zur selben Zeit entstand die Osteopathie in den USA, eine manuelle Heilkunst, die in den abgelegenen Gebieten des „wilden Westens“ wo es keine medizinische Versorgung gab,
von Andrew Taylor Still entwickelt wurde. In der Osteopathie wurde die Bedeutung der Faszien als das alles verbindende und nährende Gewebe von Anfang an betont.
In der westlichen Medizin hingegen wurden die Faszien meist als bloßes Verpackungsorgan betrachtet und in seiner Bedeutung ignoriert. Welt- weit lernten Medizinstudenten in der praktischen Anatomie als eine ihrer ersten Aufgaben die umhüllenden Faszien möglichst umfassend wegzupräparieren, damit „man etwas sehen konnte“. Prof. Pischinger hatte aber bereits in den 70er Jahren herausgefunden, dass im Bindegewebe viele Immun- und Schutzfunktionen stattfinden, als ein System der Grundregulation.
In Deutschland hat sich vor allem ein Mann um die Faszien verdient gemacht, die heute in aller Munde sind: Dr. Robert Schleip, Therapeut, Autor und Forscher, mit dem der Autor dieses Artikels 1994 die Deutsche Gesellschaft für Faszientherapie DGMR gründete.
Tradition & Weiterentwicklung: Faszien, das Internet des Körpers
Faszien können wir uns vorstellen wie ein Internet im Körper, welches uns unseren Körper sensorisch überall wahrnehmen und steuern lässt. Einen wesentlichen Beitrag zum neuen Verständnis der Faszien lieferten die Forschungen zur myofaszialen Kraftübertragung. Die meisten Muskeln über- tragen einen beträchtlichen Teil ihrer Zugkraft nicht direkt auf die damit verbundenen Sehnen, sondern auf parallel dazu verlaufende Nachbarmuskeln. Dies geschieht hauptsächlich über Querverbindungen zwischen nebeneinander liegenden Muskelhüllen. Dass Nachbarmuskeln mitarbeitende, unterstützende oder ermöglichende Muskeln sind, ist nicht weiter verwunderlich. Wie man jetzt jedoch herausgefunden hat, passiert dies auch zwischen funktionellen Gegenspielern. Auch beim kerngesunden Menschen versteht man jetzt eine Hauptfunktion der Muskeln darin, membranöse Faszienspannungen zu beeinflussen statt direkt auf das Skelett einzuwirken, so wie Taue, die ein Segel spannen.
Mikroskopische Faszienstruktur mit freundlicher Genehmigung Dr. Robert Schleip
Kime, die Kunst des kontrollierten Arretierens
Im Karate der Meister sind Bewegungen anzutreffen, die mühe- und absichtslos explodieren. Kime bezeichnet im Karate die Energie, die in dem Moment größter Anspannung während eines Schlages oder Trittes übertragen wird. Alle Bewegungen des Kämpfers sollen schnell und entspannt ausgeführt werden, bis es im Moment des Treffens der Technik zur Entladung der Energie kommt. Kime ist ein essentieller Bestandteil des Karate. Äußerlich erkennt man Kime am plötzlichen kontrollierten Arretieren („Einrasten“) des die Technik ausführenden Arms oder Beins wenige Zentimeter (Sun-dome) vor dem Ziel, beziehungsweise im Ernstfall genau im Ziel. Die Beherrschung des Kime ermöglicht sowohl schnelle und zugleich kraftvolle Techniken, bewahrt aber gleichzeitig den Kämpfer davor, durch permanente Muskelanspannung vorzeitig zu ermüden. Dieses Explodieren und Einrasten be- dient sich des aufgeladenen und gespannten Fasziensystems.
Kime ist kein Muskelkrampf: Vorspannen versus Verspannen!
Karate-Anfänger missverstehen Kime manchmal als pure muskuläre Anspannung. Das macht ihre Techniken langsam und kostet sehr viel Energie. Auf Dauer macht dieses Muskelver- spannen die Muskeln hart und kurz, die Faszien verfilzt und unbeweglich und zerstört die Gelenke, oft Hüfte oder Knie. Wenn ein japanischer Sensei „Anspannen“ sagt, meint er wohl „Vorspannen“ und dann Loslassen. Am Ende der explosionsartigen Bewegung arretiert die Faszienspannung den Arm oder das Bein und baut somit neue Faszienspannung für die nächste Bewegung auf. Somit entsteht eine katapultartige Bewegungsdynamik, die wesentlich schneller und vom Zentrum des Körpers aus agiert, als dies mit reiner Muskelkontraktion möglich wäre.
Der doppelt gerichtete Bogen: Vorspannen, Loslassen, Vorspannen!
Eine Bewegungsabfolge von Karatetechniken wie z. B. eine Kata kann man mit dem Faszienmo- dell als eine Katapultbewegung ansehen, die sich am Ende (Kime) zur nächsten Katapult Bewe- gung auflädt: Die Folgetechnik holt sich die Energie aus dem Kime der vorangegangenen Tech- nik. Als Modell bietet sich somit auch ein vorgespannter Bogen an, der beim Loslassen des Pfei- les in eine neue Vorspannung geht, um den nächsten Pfeil abzuschießen. Diese Vorspannung findet primär nicht in den Muskeln, sondern in den Faszien statt. Somit können auch kleine und weniger muskulöse Athleten blitzartige und starke Techniken ausführen, wenn sie sich auf die Vorteile ihres Fasziensystems verlassen. (siehe z. B. Naka Sensei).
Faszienzüge, Atmung, Kime: das Stärkste aus drei Welten: „San ten riki ho“
Wenn wir uns die Karatestände und Techniken aus dem Blickwinkel des Fasziensystems ansehen, wird die Kompression der Faszienketten von Fuß bis Hüfte zusammen mit der Hüftrotation und die Entladung dieser komprimierten Gelenke entlang der Faszienzüge mit Gewichtsverlagerung offensichtlich: Ein starker Gyaku-zuki wird mit der Ferse geschlagen, und die Innenspannung der Adduktor-Faszien beim Zenkutsu dachi gibt uns dabei einen stabilen Stand. Die Atmung im Unterbauch lässt uns durch die Kompression der Faszien des Rumpfes das vegetative Nervensystem stimulieren und so „Ki sammeln“.
Wenn der Stand mit Faszienkompression am Fußgelenk, die Hüftrotation, und die Kraftübertragung entlang der Faszienzüge mit Kokyū (Atemkraft) und Gewichtsverlagerung kombiniert werden, entsteht mühelos eine starke Technik, die sich explosionsartig mit Kime entlädt. Gute Beispiele für das Vorspannen der Faszien vor dem Ex- plosiven Entladen stellen auch das Hikite und das Hikiashi (Fuss anziehen) dar.
Myofaszial Trains mit freundlicher Genehmigung Tom Myers
Faszien-Verletzung und Schädigung: Wenn Faszien nicht mehr mitmachen!
Die meisten Überlastungsschäden im Sportbereich betreffen nicht das rote Muskelfleisch, sondern das weißfarbige kollagene Fasernetzwerk des Körpers. Also das, was wir als fasziales Gewebe bezeichnen. Außerdem wissen wir heute, dass dieses Netzwerk eines unserer wichtigsten Sinnesorgane darstellt. Es ist Basis unserer koordinativen Körperwahrnehmung. Ausserdem können Faszien untereinander verkleben, verfilzen, vernarben und so ihre Federkraft und Beweglichkeit verlieren. Auch durch eine falsche Ernährung, Dauerstress und körperliche Daueranspannung kann sich das Fasziennetzwerk zum Nachteil verändern. Es kann starr und unbeweglich werden.
Faszien Training und Faszientherapie: Die Faszien „in Schuss“ halten!
Vor nicht allzu langer Zeit wurde die immense Bedeutung des alles umgebenden und alles verbindenden Fasziennetzes im Körper für die Fitness und Gesundheit eines Athleten bewiesen. Ein gut ausgebildetes und integriertes Fasziennetz optimiert sowohl Höchstleistungen, als auch die Koordination von Detailbewegungen. Es sind vielen Rezeptoren in den Faszien, die Informationen darüber geben, wie sich der Körper in der Bewegung verhält. Somit ist nicht die Haut unser größtes Sinnesorgan, sondern die Faszie. Ein gut trainiertes Bindegewebe ist elastisch und dehnbar, zugleich reißfest und kräftig und bildet die Grundlage für vitale Spannkraft und körperliche Leistungsfähigkeit. Dies sind wichtige Ressourcen für ein langjähriges gesundes Karate Training.
Muskeln und Sehnen mit Faszia lata am Oberschenkel; iStock
Faszienbehandlung der Rückenfaszie Foto pma 1997
Faszien Therapie: Faszien wieder fit behandeln
Die Faszien sind hochgradig mit Nerven versehen und können Schmerzgeneratoren sein. Das ist eine der wichtigsten neuen Erkenntnisse aus der Faszienforschung.
Mikro-Risse in der Rückenfaszie scheinen oft als Schmerzerzeuger zu wirken. Wie neue Studien gezeigt haben, hat die Bandscheibe mit der Ursache der Schmerzen häufig nichts zu tun. Die Abnutzung der Bandscheibe ist ein natürlicher Prozess wie das Ergrauen der Haare, zieht aber nicht automatisch Schmerzen nach sich – selbst bei einem klar sichtbaren Bandscheibenvorfall. Von nun an können und müssen wir Körper- und Bewegungstherapeuten in Bezug auf Training und Belastung ganz anders argumentieren. Einige traditionelle Rückenschul- Methoden haben zum Beispiel die Faszien im Alltag geschont, statt deren Elastizität und Reißfestigkeit durch ein sinnvoll dosiertes Training zu kräftigen. Die Quittung kommt dann möglicher-
weise plötzlich: Macht man doch mal mit krummem Rücken eine ungelenke Bewegung, ist die Faszie darauf nicht trainiert und reißt ein. Jetzt gibt es konkrete Hinweise, dass bei akuten Rückenschmerzen häufig Zerrungen der Rücken-Faszie eine Rolle spielen. Daher ist es manchmal unumgänglich, Spezialisten an seine Faszien zu lassen, die im Gegensatz zur Faszienrolle einen Lageplan des Körpers in ihren Händen haben. Durch eine gezielte Faszientherapie lassen sich so Verklebungen lösen. Die Faszien können dann wieder übereinander gleiten und erhalten ihre Beweglichkeit und Flexibilität zurück. So befreit diese Therapie von akuten und chronische Schmerzen und erhöht Beweglichkeit sowie Wohlbefinden im Körper – das führt oft zu einem Gefühl von Vitalität, Freude und Leichtigkeit, und zu mühelosen und blitzschnellen Karatetechniken.
Faszien-gerechte Ernährung – was Faszien gerne essen und trinken:
Bei unserer Geburt besteht unser Körper und Bindegewebe aus fast 75% Wasser. Dieser Flüssigkeitsanteil nimmt im Alter auf ca. 55% ab. Genügend Flüssigkeitszufuhr ist für ein funktionierendes Fasziensystem unabdingbar. Aller- dings sollte es kein alkoholhaltiges oder zuckerhaltiges Getränk sein, sondern Wasser mit evtl. einigen Elektrolyten. Alkohol läßt das Fasziensystem aufquellen und verfilzen, zu wenig Wasser läßt es austrocknen. Die „wenigen paar Bier“ nach dem Training sind Gift für unser Fasziensystem. Übersäuerte und verfettete Faszien sind der Speicherort für viele Stoffwechselgifte, die unser Körper nicht mehr entsorgen kann. Langkettige ballaststoffreiche Kohlehydrate wie Quinoa, Hirse oder Naturreis stellen unseren Faszien eine kontinuierliche Energiequelle dar. Kollagen und Elastin, die Bauteile der Faszien, bestehen aus Eiweißen, es ist also wichtig, dem Körper diese Stoffe zur Erneuerung des Fas- ziensystems ausreichend zuzuführen. Hier bieten sich „leichte“ Eiweiße wie Sojaprodukte, Huhn oder Fisch an. Ge- nauso wichtig sind ungesättigte Fettsäuren (Omega3) für unser Fasziensystem, welche wir aus Olivenöl, Leinöl oder Fisch beziehen können. Wichtige Vitamine für das Bindegewebe sind Vitamin C, D, K und alle B Vitamine. Calcium, Die Mikronährstoffe Magnesium, Kalium und Natrium müssen gut ausbalanciert vorhanden sein, um unser Faszien- system in Schuss zu halten. Einige weitere Spurenelemente wie Selen, Zink, Molybdän und Mangan. All diese Stoffe können wir mit einer naturbelassenen und unraffinierten Nahrung mittels Gemüse und Obst zu uns nehmen.
Kihon, Kata, Kumite – Karate in den Faszien üben!
Jede Trainingskomponente des Faszientrainings im Karate fokussiert sich jeweils auf eine der herausragenden Eigenschaften des kollagenen Netzwerkes mit dem Ziel, die Resilienz, (Federkraft) des Bindegewebes, zu steigern. In diesem Sinne sollte jedes Karate Training folgende Faszien-Komponenten enthalten:
1. Federn – Katapult Training: (elastisches Rückfedern) – Federbewegungen zur Kräftigung der Gewebeflexibilität: Drehbewegungen des Rumpfes sowie Öffnen und Schließen des Schultergürtels mit Brust- und Rückenspannung können die die Fähigkeit zu Katapult-artigen Bewegungen steigern. Ausserdem kann das Aufwärmen federnde Bewegungen enthalten. Auch Rolle rückwärts, vorwärts und Fallübungen verbessern die Federkraft.
2. Dehnen: Beweglichkeitstraining: (fasziales Dehnen) – Dehnübungen zur Steigerung der Flexibilität: Am Ende des Trainings mit aufgewärmtem Körper kann die Beweglichkeit verbessert werden. Sowohl einzelne Segmente mit Schultergürtel oder Hüften als auch der ganze Körper kann alleine oder als Partnerübung gedehnt werden.
3. Beleben: Fascial Release (fasziales Lösen) – Techniken zum Lösen, zur Rehydration und Regeneration, Stoffwechseltraining: An diesem Punkt kommen gezielte Ernährung, Faszienrolle und Partnerbehandlung ins Spiel.
4. Verfeinern: (sensorisches Verfeinern) – Förderung der Bewegungsqualität und des Körpergefühls: Innehalten während einer Bewegung, Isolation einer Körperseite, Kata „Ura“ ausführen und Üben mit geschlossenen Augen sind hier zielführend. Balanceübungen auf einem Bein, Partner-Kraft-Tests und die oft so stiefmütterlich behandelte Meditation vor und nach dem Training verfeinern unsere Wahrnehmung.
Sensei Naka in Aktion (rechts)
„Tradition bedeutet nicht, die Asche anzubeten, sondern das Feuer weiterzugeben“. Gustav Mahler
Autor: Punito Michael Aisenpreis, Jg.’58, Coach, Therapeut und Trainer in München und Murnau, Kampfkunst- und Meditationslehrer. Faszientherapie seit 1981. Shotokan Karate seit 1975, aktuell 5. Dan JKA sowie DJKB Trainer. Ki Aikido mit Koichi Tohei. Regelmäßiges Karate Training in Japan. 1994 Gründung der Deutschen Gesellschaft für Myofascial Release e.V. Seit 2013 Bodhidharma Karate Dojo Murnau im DJKB.